open search
close
Betriebsübergang Betriebsverfassung

Normative Fortgeltung von Gesamtbetriebsvereinbarungen nach Betriebsübergang

Print Friendly, PDF & Email
Kollektive Fortgeltung BV

Bei Betriebsübergängen nach § 613a BGB und einer damit einhergehenden Unterrichtung der Arbeitnehmer stellt sich immer wieder die spannende Frage, ob beim Betriebsveräußerer geltende Gesamtbetriebsvereinbarungen beim Betriebserwerber normativ (d.h. unmittelbar und zwingend) fortgelten. Wie die bisherige Rechtsprechung des BAG und insbesondere die jüngst ergangene Entscheidung vom 24.1.2017 (1 ABR 24/15) zeigt, lässt sich dies nicht ohne gründliche Prüfung der betrieblichen Strukturen und der betreffenden Gesamtbetriebsvereinbarungen beantworten.

Grundlegende Entscheidungen des BAG vom 18.9.2002 und vom 5.5.2015

Ausgangspunkt sind zwei Entscheidungen des BAG vom 18.9.2002 (1 ABR 54/01) und vom 5.5.2015 (1 AZR 763/13), in denen sich das BAG grundlegend mit der Frage der normativen Fortgeltung von Gesamtbetriebsvereinbarungen nach Betriebsübergang auseinandergesetzt hat. Bei folgenden Fallgruppen hat das BAG eine normative Fortgeltung grundsätzlich bejaht:

  • Werden alle Betriebe des Betriebsveräußerers von einem Betriebserwerber übernommen, der über keinen eigenen Betrieb verfügt, gelten die Gesamtbetriebsvereinbarungen des Betriebsveräußerers beim Betriebserwerber als Gesamtbetriebsvereinbarungen normativ fort.
  • Werden nicht alle, aber mehrere Betriebe des Betriebsveräußerers jeweils unter Wahrung ihrer Betriebsidentität von einem Betriebserwerber übernommen, der bislang keinen eigenen Betrieb hat, gelten die beim Betriebsveräußerer bestehenden Gesamtbetriebsvereinbarungen in den übergehenden Betrieben normativ als Gesamtbetriebsvereinbarungen und nicht jeweils als Einzelbetriebsvereinbarungen fort.
  • Wird ein einziger Betrieb von mehreren Betrieben des Betriebsveräußerers unter Wahrung seiner Betriebsidentität vom Betriebserwerber übernommen, gelten die Gesamtbetriebsvereinbarungen des Betriebsveräußerers im übergehenden Betrieb als Einzelbetriebsvereinbarungen normativ fort, wenn
  • der Betriebserwerber zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs keinen eigenen Betrieb hat oder
  • der Betriebserwerber zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs zwar einen oder mehrere Betriebe hat, die in den Gesamtbetriebsvereinbarungen des Betriebsveräußerers geregelten Rechte und Pflichten bei ihm aber nicht normativ ausgestaltet sind, d.h. weder Gegenstand einer Gesamt- oder Konzernbetriebsvereinbarung noch eines einschlägigen Tarifvertrages sind.
  • Werden Betriebsteile vom Betriebserwerber übernommen und von ihm nach dem Betriebsübergang als selbständige Betriebe (fort)geführt, finden die vorstehenden Fallgruppen entsprechende Anwendung. D.h. auch beim bloßen Übergang von einem oder mehreren Betriebsteilen kommt nach umstrittener Auffassung des BAG eine normative Fortgeltung von Gesamtbetriebsvereinbarungen des Betriebsveräußerers in den „neuen“ Betrieben des Betriebserwerbers in Betracht (entweder als Gesamt- oder als Einzelbetriebsvereinbarungen).

Das BAG begründet in den vorstehenden Fallgruppen die normative Fortgeltung u.a. damit, dass der Inhalt einer Gesamtbetriebsvereinbarung betriebliche Angelegenheiten betreffe, die lediglich auf der Rechtsebene des Unternehmens normativ ausgestaltet seien. Gehe ein Betrieb unter Wahrung seiner Identität auf einen anderen Rechtsträger über, bestehe sowohl das bisherige Regelungssubjekt als auch das Regelungsobjekt der Gesamtbetriebsvereinbarung unverändert fort. Die normative Fortgeltung sei nicht an die Beibehaltung einer – der Betriebsverfassung ohnehin fremden – „Unternehmensidentität“ gebunden. Auch der (etwaige) Wegfall des Gesamtbetriebsrates führe nicht zur Beendigung der normativen Wirkung. Grundsätzlich stehe der normativen Fortgeltung der Gesamtbetriebsvereinbarung auch ihr etwaiger Unternehmensbezug nicht entgegen.

Entscheidung des BAG vom 24.1.2017

Vorsicht ist nach der Entscheidung des BAG vom 24.1.2017 jedoch bei „unternehmensbezogenen“ Gesamtbetriebsvereinbarungen geboten.

Vereinfacht ging es um folgenden Sachverhalt: Ein herrschendes Konzernunternehmen (Veräußerer) unterhielt mehrere selbständige Betriebe. Bei dem Veräußerer war ein Gesamtbetriebsrat und ein Konzernbetriebsrat errichtet sowie ein Wirtschaftsausschuss gebildet. Ferner fand bei dem Veräußerer eine Gesamtbetriebsvereinbarung Anwendung, die insbesondere die Unterrichtung des beim Gesamtbetriebsrat gebildeten Wirtschaftsausschusses in wirtschaftlichen Angelegenheiten regelte. Diese Gesamtbetriebsvereinbarung sah u.a. die Unterrichtung des Wirtschaftsausschusses über die wirtschaftliche Situation von verbundenen Konzernunternehmen unter Hinzuziehung von Konzernvertretern vor. Ein Betrieb des Veräußerers wurde im Wege der Ausgliederung auf einen Erwerber übertragen, der bislang noch keinen Betrieb unterhielt und bei dem es sich nicht um ein herrschendes Konzernunternehmen handelte. Der Erwerber führte den Betrieb nach dem Betriebsübergang als selbständigen Betrieb unter Wahrung der Betriebsidentität fort. Der im übergegangenen Betrieb gewählte Betriebsrat begehrte die Verpflichtung des Erwerbers, die Gesamtbetriebsvereinbarung als Einzelbetriebsvereinbarung mit der Maßgabe anzuwenden, dass sich der Inhalt der Unterrichtung des Wirtschaftsausschusses nur auf das Unternehmen des Erwerbers bezieht.

Das BAG hat – wie die Vorinstanz – eine entsprechende Verpflichtung des Erwerbers verneint und die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats zurückgewiesen. Zwar komme in der vorliegenden Konstellation, in der ein Betrieb unter Wahrung der Betriebsidentität auf einen Erwerber ohne eigenen Betrieb übergeht, eine normative Fortgeltung von Gesamtbetriebsvereinbarungen als Einzelbetriebsvereinbarungen grundsätzlich in Betracht. Die normative Fortgeltung der streitgegenständlichen Gesamtbetriebsvereinbarung scheitere jedoch daran, dass die Gesamtbetriebsvereinbarung nach ihrem Inhalt zwingend die Zugehörigkeit zum Veräußerer voraussetze. Die Gesamtbetriebsvereinbarung regele Unterrichtungsansprüche eines bei einem herrschenden Konzernunternehmen gebildeten Wirtschaftsausschusses. Die Gesamtbetriebsvereinbarung knüpfe somit zwingend an eine beim Veräußerer bestehende unternehmens- und betriebsverfassungsrechtliche Struktur an, die beim Erwerber nicht bestehe.

Einordnung und Praxishinweis

Das BAG führt in der Entscheidung vom 24.1.2017 seine Rechtsprechung zur normativen Fortgeltung von Gesamtbetriebsvereinbarungen nach Betriebsübergang konsequent fort. Die Rechtsprechung, dass eine beim Betriebsveräußerer geltende Gesamtbetriebsvereinbarung beim Betriebserwerber normativ als Einzelbetriebsvereinbarung fortgelten kann, wenn der Betriebserwerber den Betrieb unter Wahrung der Betriebsidentität übernimmt, wird ausdrücklich bestätigt. Wie die Entscheidung vom 24.1.2017 zeigt, ist die normative Fortgeltung in dieser Konstellation jedoch kein Muss. Im Einzelfall kann sie daran scheitern, dass die Gesamtbetriebsvereinbarung nach ihrem Inhalt die Zugehörigkeit zum Betriebsveräußerer oder zum Konzern des Betriebsveräußerers zwingend voraussetzt.

Die Entscheidung des BAG vom 24.1.2017 verdeutlicht einmal mehr das Erfordernis, im Vorfeld von Betriebsübergängen und der Unterrichtung der Arbeitnehmer nach § 613a Abs. 5 BGB die beim Betriebsveräußerer geltenden Gesamtbetriebsvereinbarungen sorgfältig zu prüfen. Gegenstand dieser Prüfung ist u.a. die – oftmals nicht einfach zu beantwortende – Frage, ob die Gesamtbetriebsvereinbarung zwingend eine Zugehörigkeit zum Betriebsveräußerer voraussetzt. Weiter muss geprüft werden, ob die Gesamtbetriebsvereinbarung normative Regelungen oder „nur“ schuldrechtliche Verpflichtungen enthält und ob sie überhaupt für den übergehenden Betrieb/Betriebsteil gilt. Die Prüfung muss sich ferner darauf beziehen, ob es sich um eine in originärer Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrates nach § 50 Abs. 1 BetrVG abgeschlossene Gesamtbetriebsvereinbarung oder um eine nach § 50 Abs. 2 BetrVG kraft Auftrags zustande gekommene Vereinbarung handelt. Im letzten Fall handelt es sich rechtlich um eine Einzelbetriebsvereinbarung, die nach den Regeln für Einzelbetriebsvereinbarungen zu behandeln ist. Handelt es sich um einen Betriebs- oder Betriebsteilübergang auf einen Erwerber, der bereits über einen oder mehrere Betriebe verfügt, muss zusätzlich geprüft werden, ob die Regelungen der Gesamtbetriebsvereinbarung bereits Gegenstand normativer Regelungen des Erwerbers sind.

KLIEMT.Arbeitsrecht




Wir sind Deutsch­lands führende Spe­zi­al­kanz­lei für Arbeits­recht (bereits vier Mal vom JUVE-Handbuch als „Kanzlei des Jahres für Arbeitsrecht“ ausgezeichnet). Rund 90 erst­klas­sige Arbeits­rechts­exper­ten beraten Sie bundesweit von unseren Büros in Düs­sel­dorf, Berlin, Frankfurt, München und Hamburg aus. Kompetent, persönlich und mit Blick für das Wesent­li­che. Schnell und effektiv sind wir auch bei komplexen und grenz­über­schrei­ten­den Projekten: Als einziges deutsches Mitglied von Ius Laboris, der weltweiten Allianz der führenden Arbeitsrechtskanzleien bieten wir eine erstklassige globale Rechtsberatung in allen HR-relevanten Bereichen.
Verwandte Beiträge
Neueste Beiträge Unternehmensführung

Kündigungsschutz für Geschäftsführer beim Betriebsübergang?

In der Praxis kommt es regelmäßig vor, dass Unternehmen verdiente Arbeitnehmer zu Geschäftsführern „befördern“, ohne dies vertraglich sauber, d.h. unter Aufhebung des Arbeitsvertrages und Abschlusses eines Dienstvertrages zu regeln. Das BAG hat nun entschieden, dass sich dies auch im Falle eines Betriebsübergangs auswirken kann und somit aus Unternehmenssicht entsprechende Risiken birgt (BAG, Urteil vom 20. Juli 2023 – 6 AZR 228/22). Liegt der rechtlichen Beziehung…
Neueste Beiträge

Soziale Auswahl beim Betriebsteilübergang? Nein, danke!

Bei einem Betriebsteilübergang sind die Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnisse auf den Erwerber übergehen, nicht im Wege der sozialen Auswahl zu bestimmen. Vielmehr gehen nur die Arbeitsverhältnisse derjenigen Arbeitnehmer auf den Erwerber über, die dem betroffenen Betriebsteil vom veräußernden Arbeitgeber zugeordnet worden sind. Dies hat das Bundesarbeitsgericht in einem aktuellen Urteil (BAG v. 11.05.2023 – 6 AZR 267/22) entschieden. Beim Übergang eines Betriebsteils nach § 613a BGB…
Individualarbeitsrecht Neueste Beiträge Private Equity M&A Restrukturierung Vergütung

Workforce in M&A-Verträgen: Asset und/oder Kostenpunkt?

Veräußerungen von Unternehmensbereichen – z.B. im Rahmen von Carve-Outs oder klassischem Outsourcing – werden häufig als sogenannte Asset Deals strukturiert. Die häufige Folge ist ein Betriebsübergang. Damit folgen die Arbeitskräfte als häufig wichtiger Faktor anderen Assets wie Immobilie, Produktionsmittel oder Kundenverträge. In den jeweiligen M&A-Verträgen besteht erheblicher Regelungsbedarf, z.B. zur Verteilung der Personalkosten um den Übergang und zum Umgang mit sogenannten Widersprechern. Überträgt ein Unternehmen…
Abonnieren Sie den kostenfreien KLIEMT-Newsletter.
Jetzt anmelden und informiert bleiben.

 

Die Abmeldung ist jederzeit möglich.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert